Generationen­übergreifendes Arbeiten

26. August 2015 Mehr

 

Wie könnte der Raum gestaltet werden, damit sich die Gäste wohlfühlen, wie muss die Einrichtung aussehen, wo soll die Ware her kommen? Wie wird ein Kaffeehaus geführt und wie gelingt es vor allem medial, die Leute in einem Gewirr aus Gastronomiebetrieben genau auf dieses Projekt aufmerksam zu machen? All diese Fragen stellten sich die Gebrüder Stitch, zwei Wiener Designer, die ihr Modeatelier „Arschsalon“ – hier werden organische Maßjeans angefertigt – in der Mariahilferstraße kurzfristig zu einer „Vollpension“ umwandelten.

 

 

Gestartet wurde dieses Projekt im Zuge des Social Design Calls der Vienna Design Week 2012, um auf die Frage „Wo gibt es denn eigentlich die beste Mehlspeise?“ eine treffende Antwort zu finden. Für Michael Lanner und Moriz Piffl (Gebrüder Stitch) war das sofort klar: Bei der Oma oder bei der Tant’. Somit riefen sie „alle Opas und Omas auf, ihre besten Rezepte und das Familienalbum aus der Schublade zu kramen und den Jungen so richtig zu zeigen, wo der Löffel hängt!“ Begeistern ließen sich von dieser Idee einige und brachten neben ihren wohl gehüteten Lieblingsmehlspeisen auch die Lust mit, Lebensgeschichten und Erfahrungen mit der jüngeren Generation auszutauschen. Jung trifft auf jung geblieben und gemeinsam bilden sie ein Team aus Erfahrung und Freude an der Arbeit, gepaart mit einer großen Portion Kommunikation, Loyalität und Lebensfreude. Jede Rezeptur bekommt ein besonderes Fünkchen Liebe, denn hier wird alles mit der Hand und in Eigenproduktion hergestellt.

Die Vollpension versteht sich als Social Business, verfolgt also neben wirtschaftlichen Zielen vor allem auch soziale und gesellschaftliche Ziele wie: Zuverdienst statt Altersarmut, „sinnstiftende Tätigkeit“ statt „Belastung für die Gesellschaft“ oder Weitergabe von Erfahrungswerten anstelle von Kontaktarmut. Nachdem dieses Konzept bei den Mitarbeiten sowie auch Gästen gut angekommen ist, wurde aus dem einst vorgesehenen Pop-Up-Kaffeehaus ein Social Business mit eigenem Fixstandort in Wien. „Von den SeniorInnen, die ganz am Anfang schon mit dabei waren und auch den Gästen, wurden wir drei Jahre lang belagert, wann es endlich ein dauerhaftes Heim für die Vollpension gäbe“, so die Ideengeber Mike und Moriz. Seit 4. Juni 2015 ist die Vollpension in der Schleifmühlgasse zu finden. Hier backen nun SeniorInnen, die Teilzeit angestellt sind. „Die Oma kriegt also einen permanenten Wohnsitz“, wie es die Gebrüder Stitch ausdrücken. Zu ihnen hat sich ein Unternehmerteam rund um die leitende Hannah Lux gesellt.

Sechs Tage die Woche wird hier vor der Nase der Gäste gebacken, gekocht und serviert. Neu ist, dass die Omas neben süßen und sauren Naschereien auch warme Hausmannskost wie Schweinsbraten oder Krautfleckerl fabrizieren, ebenso Gastro-Exotiker wie gebackene Mäuse, Buchteln mit Vanillesauce oder Käseigel. Auch Veganer kommen hier nicht zu kurz. Mit Start des Lokals beschäftigt die Vollpension zwölf SeniorInnen als BäckerInnen und GastgeberInnen, die zum Großteil geringfügig angestellt sind. Bereits von Beginn an – beim Design Week-Projekt – war die Caritas Wien dabei und unterstützt nun auch weiterhin die Oldies in der Küche. Ihnen stehen zwei vom AMS geförderte Küchenhilfen aus dem Wiedereinsteiger/Innen-Projekt, „job-aktiv“ zur Seite.

Für die optische Gestaltung und die Ausstattung verantwortlich sind der Designer Sebastian Rahs, die Künstlerin Riki Werdenigg – sie hat von 2012 weg die Möblierung und Ausstattung der Vollpension übernommen – und Moriz Piffl selbst. Für alle Illustrationen zeichnet wie auch schon in der Vergangenheit Harajan aka Harald Lustinger verantwortlich.

In sorgfälltigster Kleinarbeit wurden Artefakte von Flohmärkten und Ähnlichem zusammengetragen, um auch in der gestalterischen Umsetzung dem Namen und Programm des Hauses gerecht zu werden. „Turbo-Kitsch“ war angesagt, um Kindheitserinnerungen wieder aufleben zu lassen.

 

Der Gästeraum gliedert sich in drei unterschiedlich gestaltete Zonen: Omas Kuchl, das Esszimmer mit einer langen Tafel für zwölf Personen und den Wohnzimmerbereich, der die größte Fläche des Lokals einnimmt. Die offene Oma-Schau-Küche ist das Prunkstück der neuen Vollpension. Die Bar wurde aus dem Wandverbau des Vorgängerlokals gezimmert und die Resopalplatten-Restbestände der Stadt wurden geplündert, um aus Altem und Neuem die Oma-Arbeitsfläche zu gestalten.

„Durch die vier fliegenden Öfen hinter der Bar entsteht Omas Backparadies. Wir haben Omas liebstes Arbeitsgerät zum Wahrzeichen der Vollpension erklärt und mit einer Neonlicht-Installation versehen, die Oma im wahrsten Sinne des Wortes ins rechte Licht gerückt und damit gleichzeitig einen Gegenpol zum ,altvatrischen‘ Interieur geschaffen. Vier Backöfen sind über eine aufwendige Konstruktion mit Gegengewichten höhenverstellbar und leuchten in den vier Farben der Vollpension im Neonlicht“, erklärt der Designer Sebastian Rahs. „Neben der ohnehin schon großen Herausforderung, den bereits gefestigten Stil der Vollpension – unter Einhaltung aller funktionellen und behördlichen Anforderungen – in eine dauerhafte Bleibe zu überführen, galt es vor allem den feinen Grat zwischen ,alt gworden‘ und ,jung bliebn‘ zu beschreiten. Schwierig, wenn Vieles auch neu sein muss. Der Charme des Projekts blieb jedenfalls erhalten.“

Passend zu Omas Einkaufsgeschmack, konnte die Vollpension willhaben.at als Ausstattungspartner gewinnen. Ab Herbst ist geplant, auch einzelne Vollpensionsmöbel – gemeinsam mit der Internetplattform für Gebrauchtes – direkt im Lokal zu verkaufen.

 

 

 

Beim Essen kommen d´Leut zam

Seit letzten Sommer leitet Hannah Lux die Vollpension. Die Unternehmerin lernte Mike Lanner und Moriz Piffl, alias Gebrüder Stitch, die selbst nicht die zeitlichen Ressourcen hatten, aus dem Projekt einen dauerhaft und nachhaltig funktionierenden Gastronomiebetrieb und Sozialunternehmen zu entwickeln, im Impact Hub Vienna, einem Co-Working Space für SozialunternehmerInnen in Wien kennen. Für hotelstyle & gastro erlaubt die Geschäftsführerin einen noch eingehenderen Blick hinter die (transparenten) Kulissen.

 

Worin besteht der Reiz bzw. die Herausforderung einer solchen Unternehmensführung?

Als Social Business haben wir uns zum Ziel gesetzt, Lösungen für eine gesellschaftliche bzw. soziale Herausforderung zu entwickeln und gleichzeitig als „normaler“ Gastrobetrieb auch Profit zu erwirtschaften. Das ist im Alltag nicht immer ganz so einfach. Unsere „Omas“ sind spitze, aber die meisten von ihnen eben keine Profibäckerinnen. Das macht die Vollpension ja auch aus, dass es bei uns anders zugeht als in konventionellen Kaffeerestaurants. Wenn die Bude voll ist, kann’s da schon mal zu Spannungen kommen. Wir sind auch im Team sehr, sehr divers aufgestellt. Von der Sozialarbeiterin bis zum Profigastronomen. Ich mag es, wenn verschiedene Menschen zusammenkommen, die unterschiedliche Backgrounds haben und gemeinsam an einem Ziel arbeiten. Nur so, denke ich, kann in unserer Gesellschaft etwas verändert werden. In der Vollpension (er)leben wir das jeden Tag – unterschiedliche Generationen treffen aufeinander, die gemeinsam einen schönen Ort schaffen, wo wir uns alle wohl fühlen können.

 

Was macht für Sie den ganz persönlichen Sinn hinter diesem Projekt aus?

Ich selbst komme aus einer kleinen Stadt in Oberösterreich und hatte immer eine sehr gute Beziehung zu meinen Großeltern und älteren Menschen generell. Ich finde es schade, dass es in der Stadt, wo alles immer noch schneller gehen muss, so wenig Berührungsflächen zwischen Alt und Jung gibt. Das Hamsterrad, wo viele nur mehr auf sich selber schauen, wird uns als Gesellschaft nicht weiter bingen. Davon bin ich überzeugt. Die Vollpension ist ein Ort, wo´s neben den besten Kuchen Wiens, vor allem darum geht dass Alt und Jung zusammenkommen, Menschen mit unterschiedlichen Lebensgeschichten einander aus dem Leben erzählen, von- und miteinander lernen, zuhören und gehört werden. Wo wir alle ein Stückerl näher zusammenrücken und irgendwann das Alter keine Rolle mehr spielt. Man sagt ja „Beim Essen kommen d´Leut zam“ – davon machen wir Gebrauch – quasi Omas Kuchltisch als Gastrokonzept.

 

Wie kommt das Projekt bei den Gästen an?

Sehr gut! Es ist immer wieder faszinierend, dass jede/r zweite Gast, der zu uns kommt, nach ein paar Minuten selbst von den Eltern und Großeltern zu erzählen beginnt. Durch die persönlichen Gespräche, die in der Vollpension entstehen, kommt man gleich auf eine ganz andere, vielleicht emotionalere Ebene als sonst. Außerdem schmeckt´s ziemlich gut bei uns, es riecht nach frischen Kuchen und unsere alten Sofas sind so gemütlich, dass so manch eine/r gar nicht mehr aufstehen mag…

 

Sind weitere Standorte angedacht?

Ja, definitiv. Wir sehen die Vollpension in der Schleifmühlgasse als das erste von hoffentlich mehreren Lokalen dieser Art. Wir wollen im ersten Schritt jetzt lernen, Prozesse aufsetzen, adaptieren, bis das Ding funktioniert und dann an einer Franchise oder anderen Form der Skalierungsstruktur arbeiten. Wir bekommen jedenfalls unglaublich viele Anfragen von Leuten in anderen Städten in und außerhalb von Österreich, die die Vollpension in ihrer Stadt eröffnen wollen. Ich denke, das Potential ist da. Ein bisserl Zeit brauchen wir noch, aber dann geht´s erst richtig los!

 

www.vollpense.at

www.gebruederstitch.at

 

 Fotos: Mark Glassner

 

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Kategorie: Branchentipps, Innovationen

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